Zugang zur Diabetesversorgung in der Schweiz

Am 14. November ist Weltdiabetestag, der auf die steigenden Zahlen an Erkrankten und in diesem Jahr auf die Versorgung der Betroffenen aufmerksam macht. Längst nicht alle auf der Welt haben Zugang zu einer Diabetesbehandlung, die sie brauchen. Wir fragten bei Prof. em. Dr. med. Peter Diem, Präsident von diabetesschweiz, nach, wie es um die Versorgung in der Schweiz steht und was die grossen Herausforderungen sind.

diab-news Ausgabe 1 - Oktober 2022

diabetesschweiz: Der Weltdiabetestag steht 2021 - 2023 unter dem Motto «Access to Diabetes Care. Wenn nicht jetzt, wann dann?». Woran liegt es, dass viele Betroffene auf der Welt, 100 Jahre nach der Entdeckung des Insulins, keinen Zugang zu einer Behandlung haben?

Peter Diem: Weltweit erhalten leider zahlreiche Betroffene nicht die adäquate Diabetestherapie! So hat einer von zwei Menschen, die Insulin benötigen würden, dazu keinen Zugang. Wichtigster Grund ist das enorme Gefälle wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Art zwischen den Industriestaaten und den sog. Entwicklungsländern.
Aber selbst in den USA muss mehr als eine Million von Betroffenen aus Kostengründen ihr lebensrettendes Insulin rationieren. Hier würde eine Reform des Gesundheitssystems, das exorbitante Preissteigerungen von Medikamenten und Therapien verhindert und allen eine medizinische Grundversorgung garantiert, Abhilfe schaffen.


Wo sehen Sie global die grössten Herausforderungen bei der Versorgung der Diabetesbetroffenen?

Eine einigermassen akzeptable Diabetestherapie (mit den Zielen HbA1c < 9%; Blutdruck < 160 / 95 mmHg; Fusspflege bei Hochrisikopatienten) wäre in den Entwicklungsländern kostensparend1! Die Gründe, wieso dies heute noch nicht umgesetzt wird, sind somit nicht primär ökonomischer Art, sondern sie sind eher in politischen, sozialen und kulturellen Strukturen dieser Länder begründet. Bezahlbare Medikamente sind für eine genügende medizinische Versorgung aller Diabetesbetroffenen essentiell. Die Entwicklungsländer brauchen aber zusätzlich Unterstützung beim Aufbau der nötigen Strukturen des Gesundheitswesens.


Wie steht es um die Versorgung in der Schweiz? Kommen alle Betroffenen in den Genuss der bestmöglichen Behandlung?

Die medizinische Grundversorgung ist in der Schweiz für alle Diabetesbetroffenen gesichert. Trotzdem ist nicht immer garantiert, dass alle Betroffenen auch wirklich die «bestmögliche» Therapie erhalten. Dazu nur drei Beispiele:

  • Alle Anbieter von Dienstleistungen (Hausärztinnen, Diabetologen, Diabetesberaterinnen, Ernährungsberater) sind zeitlich überlastet, weshalb Betroffene oft viel zu lange auf einen Beratungstermin warten müssen.
  • Betroffene mit Typ-1-Diabetes mit einem HbA1c im Bereich zwischen 7.4 - 7.8 % müssten eigentlich ihre Diabeteskontrolle noch etwas verbessern. Ohne weitere ungünstige Faktoren (schwere Hypoglykämien, keto-azidotische Entgleisungen) müssen die Krankenkassen aber aufgrund der Vorgaben der MiGel (Mittel- und Gegenständeliste) die Kosten für ein modernes Closed-Loop System nicht übernehmen.
  • Gewisse Kombinationen von Antidiabetika für Menschen mit Typ-2-Diabetes werden durch die Krankenkassen nicht vergütet.


Wie hat sich die Behandlung von Diabetes Typ 1 und Typ 2 in den letzten Jahren verändert? Was bedeutet dies?

Beim Diabetes Typ 1 sind die technologischen Fortschritte der letzten 20 Jahre frappant. Die breite Verfügbarkeit des kontinuierlichen Glukose-Monitorings hat ein neues Zeitalter eingeläutet. In den letzten 2 Jahren sind nun noch die (hybriden) Closed-Loop Systeme dazu gekommen. Diese neuen Methoden haben es vielen Betroffenen erlaubt, ihre glykämische Kontrolle wesentlich zu verbessern.

Beim Diabetes Typ 2 wurde das Arsenal der verfügbaren medikamentösen Therapien in den letzten Jahren wesentlich erweitert. Speziell zu erwähnen sind Substanzen, die nicht nur den Blutzucker senken, sondern auch die kardiovaskulären Risiken reduzieren (SGLT-Hemmer, GLP-1-Agonisten) oder das Übergewicht abbauen (GLP-1-Agonisten) helfen.


Wie kann der Zugang zu Diabeteswissen und Therapiemöglichkeiten in der Schweiz noch verbessert werden?

Dazu müsste sicher das Therapie-Konzept des Empowerments, die «éducation thérapeutique» unserer Kollegen aus der Romandie, noch weiter gestärkt und die Arbeit im Netz der verschiedenen Disziplinen und Berufe optimiert werden. Aus Kosten- und Effizienzgründen werden wir die Aufgabenteilung unter den Betreuenden auch neu definieren müssen. Dazu ein paar Ideen:

  • Grundlegende Betreuungsaufgaben können vermehrt durch Praxisassistenten/-innen mit Zusatzausbildung durchgeführt werden
  • Diabetes- und Ernährungsberatung übernehmen vermehrt komplexere Aufgaben (auch solche, die bisher eher durch die Ärzteschaft übernommen wurden)
  • Bessere Aufgabenteilung zwischen Hausärzten und Diabetologen
  • Die psychosoziale Betreuung von Diabetesbetroffenen ist eine bedeutende Säule der Therapie, die in der Schweiz noch wesentlich ausgebaut werden könnte

Eine vermehrte Digitalisierung (z.B. elektronisches Patientendossier) sowie interdisziplinäre bzw. interprofessionelle Fortbildungen sind Möglichkeiten, eine optimierte Aufgabenteilung zu erreichen.

 

1 Venkat Narayan et al. CMAJ. 175:733, 2006