Vorteile der neuen Diabetesklassifizierung

Heute lassen sich dank Entwicklungen in der Molekulargenetik und Diagnostik Subtypen von Diabetes identifizieren, die eine individualisierte Behandlung und eine bessere Bewertung des Risikos für diabetesspezifische Komplikationen und Spätfolgen erlauben.

diab-news Ausgabe 1 - Februar 2023

Wir fragten bei Dr. med. Stefan Fischli, Chefarzt Endokrinologie/Diabetologie am Luzerner Kantonsspital (LUKS) nach, wie eine moderne Behandlung je nach Diabetestyp aussieht und welche Vorteile dies hat.

diabetesschweiz: Was bedeutet für Sie eine individualisierte Behandlung des Diabetes mellitus und warum ist dies die Therapie der Zukunft?

Stefan Fischli: Generell sind individualisierte Therapieansätze in der modernen Medizin sehr wichtig geworden. Sie erlauben einen möglichst grossen therapeutischen Nutzen und haben das Ziel, Nebenwirkungen zu reduzieren oder ganz zu verhindern.

Diabetes mellitus als eine der häufigsten chronischen Erkrankungen ist ein gutes Beispiel, um die Vorteile einer individualisierten Behandlung aufzuzeigen: Die verschiedenen Diabetes-Subtypen sind mit einem unterschiedlich hohen Risiko für Spätfolgen assoziiert, die gezielt behandelt werden müssen. Gewisse Personen mit Typ-2-Diabetes benötigen bereits früh eine Insulintherapie. Hier helfen das Wissen und Verständnis, dass diese möglicherweise der Gruppe mit dem schweren Insulinmangel angehören. Nicht zuletzt müssen bei einer jahre- bzw. jahrzehntelangen Diabetestherapie Nebenwirkungen bestmöglich vermieden werden wie Hypoglykämien (Unterzuckerungen) oder auch die Gewichtszunahme. Sie spielen bei der sogenannten «Therapietreue», wie die regelmässige Einnahme einer verordneten Medikamentendosis, eine wichtige Rolle.

Eine individualisierte Behandlung des Diabetes mellitus ist heute möglich, weil uns eine Vielzahl an Medikamenten und technischen Hilfsmitteln zur Verfügung steht und wir dank dieser Auswahl allen Betroffenen eine massgeschneiderte Behandlung anbieten können.

Welche unterschiedlichen Medikamente sind in jüngster Zeit auf den Markt gekommen und welchen Nutzen bringen sie? 

Es sind neuere Diabetesmedikamente, die wir nun auch schon seit einigen Jahren beim Typ-2-Diabetes einsetzen und sehr gut kennen. Dazu zählen:

  • die GLP-1-Rezeptoragonisten, die neben einer häufig eindrücklichen Gewichtsreduktion eine deutliche Verbesserung des Blutzuckers bewirken und auch mit anderen Medikamenten wie dem Insulin kombiniert werden können.
  • die häufig eingesetzte Substanzklasse der SGLT-2-Hemmer, die den Zuckertransport in der Niere blockieren. Sie verursachen ebenfalls eine leichte Gewichtsreduktion und senken den Blutzucker.

Beiden Medikamentengruppen ist gemeinsam, dass sie keine Hypoglykämien verursachen und Zusatznutzen bringen: Gewisse GLP-1-Rezeptoragonisten und SGLT-2-Hemmer senken beispielsweise das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen – ein wichtiger Umstand, wenn man bedenkt, dass diese Krankheiten weiterhin eine der häufigsten Todesursachen bei Diabetesbetroffenen sind. Bei den SGLT-2-Hemmern konnte auch gezeigt werden, dass sie einen günstigen Effekt bei der Behandlung einer Herzmuskelschwäche (Herzinsuffizienz) oder einer diabetischen Nierenerkrankung (diabetische Nephropathie) aufweisen.

Was ist bei der Behandlung der unterschiedlichen Subtypen zu beachten?

Bei der Behandlung achten wir sehr darauf, welche zusätzlichen Erkrankungen und Folgeschäden vorliegen und wie hoch das Herzkreislauf-Risiko ist. Anhand dieser Punkte wählen wir für jede Patientin oder Patienten die passende Therapie aus. Das Wissen um die verschiedenen Subtypen hilft dabei.

Eine andere, einschneidende Entwicklung betrifft die Diabetestechnologie. In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Sensor-Systeme zur kontinuierlichen Gewebezuckermessung etabliert, was mühsame «blutige» Blutzuckermessungen am Finger schrittweise in den Hintergrund treten liessen. Die Koppelung der Sensor-Systeme mit Insulinpumpen (hybrid-closed loop Systeme) eröffnet in der Behandlung des Diabetes mellitus Typ 1 neue und vielversprechende Perspektiven für eine gute Blutzuckereinstellung.

Was genau will man mit einer individualisierten Diabetesbehandlung erreichen?

Der Zweck jeder erfolgreichen Diabetesbehandlung ist, die Blutzuckerwerte zu stabilisieren und diabetische Folgeerkrankungen wie Augen- und Nierenschäden oder eine Herzkranzgefässverengung zu verhindern. Dazu gehören ein HbA1c (Langzeitblutzuckerwert) im Zielbereich, die Behandlung zu hoher Blutfettwerte und des Bluthochdrucks sowie die Reduktion von allfälligem Übergewicht. Letzteres gilt nebst dem Blutzucker beim Typ-2-Diabetes als primäres Therapieziel. Neben angepasster Ernährung und Steigerung der körperlichen Aktivität werden medikamentös primär die erwähnten GLP-1-Rezeptoragonisten mit sehr gutem Erfolg eingesetzt. Wir können so eine hohe Lebensqualität bis ins hohe Alter ermöglichen.

Welche Herausforderungen stellen sich bei einer individualisierten Diabetestherapie?

Die individualisierte Diabetestherapie stellt Fachpersonen in der Behandlung vor neue Herausforderungen. Eine standardisierte Behandlung «nach Schema X» gehört der Vergangenheit an.

  • Für eine wirkungsvolle Therapie muss der Diabetestyp, Risikofaktoren und Spätfolgen für jede Patientin und jeden Patienten durch eine gute klinische und laborchemische Untersuchung möglichst genau bestimmt werden.
  • Die verschiedenen Mechanismen, die zu den unterschiedlichen Diabetestypen führen und die Wirkungen, Nebenwirkungen und Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Medikamentenklassen erfordern viel Wissen.
  • Nicht zuletzt stellen sich auch neue Anforderungen in Bezug auf die Kostenübernahme an die Krankenkassen. Einige der Medikamentenkombinationen sind zwar zugelassen, werden aber noch nicht durch die Versicherung vergütet.

Dies erfordert in der Regel eine enge Zusammenarbeit zwischen den Leistungserbringern (Diabetes-/Ernährungsberatung, Hausarzt, Diabetologin).

Was wünschen Sie sich für die Diabetesbetroffenen?

Ich wünsche mir, dass jede Person mit Diabetes mellitus ein möglichst uneingeschränktes Leben führen kann. Die Therapie sollte einfach durchführbar und auf lange Dauer wirksam sein, wenig Nebenwirkungen aufweisen und Folgeerkrankungen reduzieren. Um dies möglich zu machen, braucht es moderne Medikamente, die beispielsweise nur einmal pro Woche appliziert werden müssen und technische Hilfsmittel, die eine unkomplizierte Überwachung und Steuerung der Blutzuckerwerte erlauben. Vieles ist heute schon möglich. Ich bin sehr optimistisch, was Neuerungen in Zukunft betreffen.