Sara Brunati, Leiterin Ernährungsberatung am Luzerner Kantonsspital, im Interview mit diabetesschweiz.
Welche Herausforderungen stellen sich den Diabetesbetroffenen mit den aktuellen Angaben auf Lebensmitteln?
Sara Brunati: In der Schweiz müssen Lebensmittel gemäss der Verordnung betreffend die Information über Lebensmittel (LIV) gekennzeichnet werden. Die Nährwertdeklaration und somit die Angabe der im Produkt enthaltenen Kohlenhydratmenge (in der Regel pro 100 g angegeben) ist obligatorisch.
Dank dieser Angabe ist es für Diabetiker möglich, die Menge an Kohlenhydraten zu berechnen. Es braucht aber eine gute Schulung und gute Augen, da der Schriftzug auf den Lebensmitteln meistens klein ausfällt. Die Angabe über die enthaltene Menge an Zucker ist hingegen nur für bestimmte Lebensmittelgruppen zwingend. Ob dem Produkt Zucker zugesetzt wurde, ist in der Zutatenliste aufgeführt, wobei nicht angegeben werden muss, wie viel Zucker enthalten ist.
Wem bringt der Nutri-Score etwas?
Weil die Nährwertdeklaration und die Zutatenliste auf den Lebensmittelverpackungen nicht immer einfach zu verstehen sind, werden diese von den Konsumentinnen und Konsumenten meist nicht gelesen. Um allen Bevölkerungsgruppen dennoch eine bewusste Wahl zu ermöglichen, möchte man eine vereinfachte Kennzeichnung auf der Verpackung einführen. Diese ersetzt weder die bisherigen Produktinformationen noch die Ernährungsempfehlungen der Lebensmittelpyramide, sondern ergänzt sie.
Bringt der Nutri-Score für die Diabetestherapie Vorteile?
Der Nutri-Score soll allen Bevölkerungsgruppen helfen, Lebensmittel rasch zu vergleichen und die gesündere Wahl zu treffen. Für die Berechnung der Kohlenhydratmenge bei Diabetesbetroffenen bringt der Nutri-Score keine Vorteile.
Wofür steht der Nutri-Score genau?
Der Nutri-Score dient dazu, ähnliche Lebensmittel rasch miteinander zu vergleichen und die gesündere Wahl zu treffen. Er gibt an, wie ausgewogen ein Lebensmittel von einer Skala von A bis E zusammengesetzt ist. Der Score wird mittels einer wissenschaftlich validierten Formel ermittelt. Dabei werden positive und negative Aspekte miteinander verrechnet. Zu den positiven Aspekten gehören der Gehalt an Früchten, Gemüsen, Hülsenfrüchten, Nüssen, gewissen Ölen, Nahrungsfasern und Eiweiss. Umgekehrt tendiert der Score umso stärker in den roten Bereich, je mehr Zucker, Salz, gesättigte Fettsäuren und Energie (Kalorien) ein Lebensmittel enthält. Eine grün gekennzeichnete Pizza bedeutet eine gesündere Wahl als eine orange Pizza. Ein rotes Joghurt ist weniger empfehlenswert als ein gelbes Joghurt. Pizza und Joghurt können hingegen nicht mit Hilfe des Nutri-Scores verglichen werden.
Kann mit der Einführung des Nutri-Scores das Essverhalten der Menschen beeinflusst werden?
Ich denke schon, dass dadurch eine gewisse Sensibilisierung und das Bewusstsein der Bevölkerung für eine ausgewogene Ernährung gesteigert werden kann.
Wo liegen die Gefahren für Diabetesbetroffene, wenn Sie sich vom Nutri-Score leiten lassen?
Wenn man den Nutri-Score als Ergänzung der anderen Informationen betrachtet, sehe ich keine Gefahren. Für mich ist jedoch noch offen, wie die Konsumenten in die Thematik eingeführt werden. Dies könnte z.B. in Form einer Broschüre sein, um sicher zu stellen, dass der Nutri-Score richtig verstanden wird.
Bleibt bei all den Empfehlungen nicht der Genuss und die Freude am Essen auf der Strecke?
Wichtig ist, dass man nicht das Gefühl hat, man dürfe nur noch Produkte mit einem grünen A oder B essen. Wie die Ernährungspyramide zeigt, sind die Menge und die Häufigkeit der Einnahme bestimmter Lebensmittel entscheidend.
Was ist der Nutri-Score?
Der Nutri-Score ist eine Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln, die 2017 in Frankreich eingeführt wurde. Es handelt sich um eine 5-stufige Ampelkennzeichnung, die im Vergleich zu anderen Nährwertkennzeichnungssystemen für den Verbraucher leichter verständlich ist. Ziel ist, dem Verbraucher eine Orientierung beim Kauf von Lebensmitteln zu geben und dadurch das Bewusstsein für eine ausgewogene Ernährung zu steigern. Man erhofft sich dadurch, das Ernährungsverhalten der Bevölkerung positiv zu beeinflussen und ernährungsbedingten Krankheiten (meist verursacht durch Übergewicht und Bluthochdruck) vorzubeugen.
In der Schweiz wird der Nutri-Score durch das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV unterstützt und ist eine freiwillige Kennzeichnung durch die Produzenten.